Autonomie als Schlüssel zur Kooperation

Teil 2 von: Wie kann kooperatives Miteinander mit Kindern gelingen?

Autonomie und Kooperation sind zwei Begriffe, die auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen und doch bei näherem Hinsehen zutiefst miteinander verwoben sind.

Autonomie ist ein zentrales menschliches Bedürfnis und eng mit dem Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit verknüpft. Wir alle wollen das Gefühl haben, Einfluss auf unsere Umwelt nehmen zu können – durch eigene Entscheidungen, durch das Ausdrücken unserer Gedanken und Impulse. Gleichzeitig sind wir Menschen soziale Wesen und von Anfang an auf Verbindung angewiesen. Besonders deutlich wird das bei Babys: Sie kommen vollständig abhängig zur Welt und ihr Dasein ist in den ersten Lebensmonaten vollkommen auf Verbindung ausgerichtet.

Doch bereits ab etwa dem zweiten Lebensjahr kommt als weiteres zentrales Bedürfnis die Autonomie hinzu. Das Kind braucht nun beides: Weiterhin eine sichere Verbindung und gleichzeitig immer mehr Gelegenheiten für selbstbestimmtes Handeln, Mitentscheiden, Sichabgrenzen. Für Eltern bedeutet das eine Herausforderung: Sie müssen lernen, das neue Bedürfnis ihres Kindes zu erkennen und zu begleiten – in einem Umfeld, das oft wenig Raum für selbstbestimmtes Handeln lässt. Der durchgetaktete Alltag, gesellschaftliche Erwartungen und festgefahrene Abläufe stehen dem natürlichen Bedürfnis des Kindes häufig im Weg.

Kooperation wächst auf dem Boden von Freiheit

Gelingt uns dies als Eltern, entsteht genau in dieser Schnittmenge die Grundlage für Kooperation. Denn das Erleben von Wahlmöglichkeiten und innerer Freiheit ist der Boden, auf dem Kooperationsbereitschaft wächst – die freiwillige Bereitstellung eigener Kräfte für ein gemeinsames Ziel.

Gelingt es uns jedoch nicht, auf beide Bedürfnisse einzugehen, können problematische Muster entstehen: Entweder passen sich Kinder an, um die Verbindung nicht zu verlieren – auf Kosten ihrer eigenen Bedürfnisse – oder sie verweigern sich immer öfter der Zusammenarbeit und wir geraten in wiederkehrende Machtkämpfe. Oft besteht beides gleichzeitig im Kind und es pendelt zwischen diesen Extremen hin und her.

Wenn wir Autonomie als Grundbedürfnis verstehen, kann sie zu einem Schlüssel werden, um das Miteinander zu verbessern.

Kinder, denen ausreichend autonomes Handeln zugestanden wird, sind auch in Situationen, in denen das nicht möglich ist, deutlich eher bereit mitzuziehen.

Denn ein Kind, dessen „Nein“ respektiert wurde, kann sich viel eher zu einem echten „Ja“ entscheiden.

Davon ausgehend ist es entscheidend, Spielräume zu schaffen, in denen Entscheidungsmöglichkeiten bestehen. Es gibt viele Möglichkeiten – und es lohnt sich, sich einfach mal mit Zettel und Stift hinzusetzen und aktiv danach zu suchen.

Vorbereitete Umgebung – ein Montessori-Prinzip für den Alltag

Das Konzept von Maria Montessori zielt zum Beispiel mit der Idee der vorbereiteten Umgebung darauf ab, möglichst viel selbstbestimmtes Handeln zu ermöglichen.

Ein Beispiel: Feuer übt auf die meisten kleinen Kinder eine große Faszination aus. Wir könnten ihnen hier eine Umgebung schaffen, in der sie ihrer Faszination nachgehen können: Ein Metalltablett, zwei Schalen mit Wasser, ein Päckchen Streichhölzer und eine Kerze. Ein Schälchen dient dem Ausmachen des Streichholzes, das andere dem Tröpfeln mit Kerzenwachs. Das ist eine ziemlich sichere Angelegenheit, bei der das Kind eigenständig seiner Neugier folgen kann, während wir nebenher Essen zubereiten.

Ein Tisch mit vorbereiteten kleinen Portionen Obst oder Crackern, Geschirr und Wasserkrug mit Bechern – so eingerichtet, dass die Kinder sich selbst bedienen können.

Ein kleines Zelt oder eine Nische, in der das Kind nicht gestört wird, wenn es sich zurückziehen möchte – auch nicht von Geschwistern.

Etwas, das spürbar mehr Ruhe und Entspannung ins Miteinander bringt, ist die einfache Regel: Jedes Kind darf selbst entscheiden, wie lange es mit dem Spielzeug spielen möchte, das es gerade gewählt hat – und ob es dabei allein sein möchte. Diese Entscheidung wird von uns und von den Geschwistern gleichermaßen geachtet.

Manchmal schränken wir die Autonomie unserer Kinder auch ein, weil wir an bestimmten Vorstellungen kleben: Wir hatten eine tolle Idee für den Geburtstag, die unserem Kind aber nicht gefällt oder die Klamotten-Kombination, die es sich für die Geburtstagsfeier bei Tante Erna ausgesucht hat, tut uns in den Augen weh. Das sind gute Gelegenheiten, unsere Vorstellungen loszulassen und Türen zu öffnen.

Ein weiterer entscheidender Faktor ist oft Zeit. Das bedeutet für mich: Kindern die Zeit geben, um satt zu werden.

Zum Beispiel: so oft es geht, am Spielplatz bleiben, bis unser Kind von selbst nach Hause möchte. Oder auf einem Spaziergang stehen bleiben und warten, bis es den Kran zu Ende angeschaut hat.
Der entscheidende Punkt dabei ist, dass es nicht unser ‚Lange-genug‘ ist, sondern das ‚Lange-genug‘ unseres Kindes.

Mit Ängsten umgehen, ohne Autonomie einzuschränken

Unsere Angst ist häufig auch ein Grund, warum wir unsere Kinder in ihrer Autonomie einschränken. Wir kriegen graue Haare, wenn wir sie klettern oder mit dem Fahrrad herumpesen sehen.
In dem Fall brauchen wir eine Metaebene, von der aus wir uns klar machen, dass auf Bäume klettern irgendwie zum Kindsein dazugehört. und wir unserem Kind das nicht nehmen möchten.
Wir möchten nicht unnötig Ängste beim Kind auslösen oder das Vertrauen in andere Bezugspersonen untergraben, die an der Stelle keine Gefahr vermitteln oder uns selbst dem Kind gegenüber unglaubwürdig machen.
Stattdessen können wir dem Kind unsere Schwierigkeit kommunizieren. Kinder zeigen viel Verständnis für unsere Macken, vorausgesetzt es geht nicht immer auf ihre Kosten. Das heißt in der Regel beißen wir dann in den sauren Apfel und verbringen einen quälend sorgenvollen Nachmittag oder verzichten auf unsere eigenen Pläne und gehen mit, beziehungsweise organisieren andere Menschen, die mitgehen. Das motiviert auch ungemein die eigenen Ängste mal anzugehen.

Was brauchen ältere Kinder und Jugendliche?

Die obigen Beispiele beziehen sich auf jüngere Kinder. Wie ist das mit älteren Kindern und Jugendlichen?
Wenn wir uns in sie reinversetzen, merken wir, dass sie fast so eingespannt sind in ihren Alltag, wie ein Erwachsener:
Morgens zu früh aufstehen, zur Schule gehen, Hausaufgaben machen, mithelfen Zuhause, zusätzlich noch Musikunterricht oder Sportverein. Zudem haben sie in vielen Dingen noch weniger Einfluss- oder Wahlmöglichkeiten als ein Erwachsener: Sie können nicht die Klasse wechseln, so wie wir den Job, wenn sie mit Mitschülern oder Lehrern nicht auskommen, gegessen wird, was auf den Tisch kommt, Ferienzeiten werden von der Schule bestimmt, die Schlafenszeiten sind womöglich auch noch fremdbestimmt und die ganze Situation ist völlig ausweglos bis sie endlich volljährig sind.

In all dem ist wenig Raum für eine Entscheidung aus freien Stücken und jeder von uns hat wahrscheinlich schon einmal die Erfahrung gemacht, dass es schwierig ist, etwas zu wollen, das wir müssen. In der Psychologie spricht man hier von Reaktanz – einer inneren Abwehrreaktion, die auftritt, wenn wir das Gefühl haben, in unserer Freiheit eingeschränkt zu werden.

Ich denke, dass hier der Grund zu finden ist, warum Jugendliche – und oft auch Erwachsene – ihren Autonomiekampf auf Schauplätzen austragen, die von außen betrachtet wenig sinnvoll erscheinen, weil sie sich selbst schaden, indem sie beispielsweise ungesund essen oder zu wenig schlafen.
Es geht dann darum, die Gesamtsituation gemeinsam anzusehen, anstatt Kämpfe auf Nebenschauplätzen zu führen. Als Eltern stecken wir hier oft in einem Dilemma: Wir tragen Verantwortung und haben das Gefühl, alles am Laufen halten zu müssen – gleichzeitig verstehen wir unsere Kinder nur zu gut. Denn wie oft fragen wir uns selbst, ob Leben wirklich so aussehen muss? Wie oft fühlen sich unsere Anforderungen wie von außen auferlegte Pflichten an, obwohl wir uns selbst dazu entschlossen haben, diesen Weg einzuschlagen?

Unsere Herausforderung ist an dieser Stelle unser eigenes inneres Spannungsfeld auszuhalten. Wir haben keine fertige Lösung. Auch das lässt sich dem Jugendlichen gegenüber kommunizieren, auch das kann die Basis für gemeinsame Ziele werden.

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