Konflikte zwischen Kindern zu klären, braucht Zeit. Vor allem am Anfang, wenn die Praxis noch ungewohnt ist und sich vielleicht schon einiges aufgestaut und verfestigt hat. Eine Stunde für einen Konflikt? Durchaus realistisch.
Kein Wunder also, dass viele Eltern oder Pädagog:innen diesem Prozess lieber aus dem Weg gehen. Doch genau hier liegt das Problem: Wenn du Konflikte vermeidest oder vorschnell befriedest, sparst du zwar kurzfristig Energie, langfristig zahlst jedoch nicht nur du einen hohen Preis dafür, sondern in erster Linie deine Kinder. Ungelöste Konflikte verschwinden nicht einfach wieder. Sie bleiben. Und je mehr ungelöste Konflikte zusammenkommen, umso schneller flammen sie wieder auf, umso seltener die Momente, in denen gerade mal alles zumindest oberflächlich harmonisch läuft, und umso geringer die Bereitschaft zur Kooperation im Familienalltag.
Konfliktvermeidung schadet – langfristig und tiefgreifend
Hier einige gängige Sätze aus der Konfliktvermeidungskultur und die Folgen für das Kind, die aus der dahinterliegenden Haltung der Eltern entstehen können:
- „Jetzt vertragt euch mal wieder“: Meine Bedürfnisse, meine Grenzen haben hier keinen Platz. Meine Wut hat hier keinen Platz. Wenn ich in Beziehung sein möchte heißt das, dass ich relevante Teile meiner Innenwelt unterdrücken muss. Was man dauerhaft unterdrückt, wird auch gar nicht mehr so leicht zugänglich. Was will ich eigentlich? Was will ich nicht?
- „Wer hat angefangen?“: Wenn ich jetzt überführt werde, dann werde ich bestraft oder getadelt. Das Kind lernt, dass es mit Täuschen, mit Lügen, sogar mit dem Reinreiten des anderen die besten Chancen hat, nicht verletzt zu werden. Der Fokus des Kindes verschiebt sich z.B. von der Betroffenheit darüber, dem anderen weh getan zu haben dahin, die eigene Haut zu retten. Das eigentliche Ziel, einen Konflikt zu ergründen, damit man wieder gut miteinander ist, wurde völlig aus den Augen verloren.
- „Das hat er sicher nicht so gemeint“: Das Kind gibt das Vertrauen in seine eigene Wahrnehmung auf, in die Schärfe und Klarheit, selbst subtile zwischenmenschliche Kommunikation wahrnehmen und akkurat deuten zu können. Später wird sich das Kind vielleicht sehr deutliche Red Flags einfach schönreden – weil man ja das Gute im Menschen sehen soll – und dadurch in ungute Beziehungsdynamiken geraten.
„Meine Kinder weigern sich aber, Konflikte zu klären“
Wenn die Kinder sich weigern, Konflikte zu klären, dann kannst du als Elternteil davon ausgehen, dass du an deinem Vorgehen arbeiten musst. Denn wenn du ein gutes Vorgehen hast, dann machen die Kinder die Erfahrung, dass sie aus der Klärung rausgehen und es ihnen besser geht.
Wovor möchten die Kinder sich schützen, indem sie die Konfliktlösung ablehnen? Und wie kannst statt dessen du sie davor schützen?
Es geht auch anders
Ich habe von mehreren Familien gehört, dass sie zu Hause täglich Konflikte haben, die nicht entspannt und friedlich ausgehandelt werden, sogar mehrmals täglich, und dass das ganz normal für sie ist. Mir ist klar, dass da viele Faktoren reinspielen können und dass viele Eltern völlig überlastet sind und nicht mal eben die perfekten Voraussetzungen einer sicheren, harmonischen, entspannten und selbstbestimmten Umgebung schaffen können. Dennoch glaube ich, dass ich mich nicht zu weit aus dem Fenster lehne, wenn ich behaupte, dass es möglich ist, dass Geschwister untereinander (sowie auch Kinder mit den Eltern) nur alle paar Wochen einmal einen Konflikt miteinander haben, der nicht aufgelöst werden konnte, bevor einer zu Mitteln gegriffen hat, die den anderen in irgendeiner Art verletzt haben.
Und hier gibt es einen essentiellen Unterschied zwischen einem aufgeräumten Miteinander und einem nur oberflächlich friedlichen Miteinander, das entweder auf der Tabuisierung von Konflikten beruht oder auf der gewaltsamen Unterdrückung von Konflikten. In letzterem Fall ignorieren oder bekämpfen wir den Konflikt, wir betrachten ihn als etwas, das uns vom „eigentlichen Leben“ abhält. Wir wollen, dass er nicht da ist und stellen alles mögliche an, um den Konflikt zu übersehen, klein zu reden, vorschnell zu befrieden oder mit einem Machtwort zu unterbrechen.
Im anderen Fall steht das Auflösen eines jeden Konfliktes in unserer Prioritätenliste ganz weit oben. Wir nehmen selbst subtile Erschütterungen in der Qualität des Miteinanders wahr und sprechen an, was wir wahr nehmen. Wir wollen, dass die Dinge geklärt werden und nicht im Dunkeln wuchern. Wir engagieren uns dafür, dass Bedürfnisse und Grenzen offen ausgesprochen werden können, dass widersprüchliche Interessen ausgehandelt werden, anstatt über Dominanz oder Manipulation angegangen zu werden. Wir wollen keine „ich gewinne, Du verlierst“-Spiele und auch keine Resignation. Das ist Arbeit, das erfordert Engagement. Aber es zahlt sich aus.
Konkrete Tipps zur Konfliktlösung
1. Konfliktlösungen brauchen Zeit
Selbst wenn du am Limit bist: Wenn du es irgendwie möglich machen kannst, mach es möglich! Für mich kommt das in meiner Prioritätenliste direkt nach den ganz grundlegenden Basics wie Dach über dem Kopf, Essen und sicherer Umgebung. Tatsächlich ist es ein Bestandteil einer sicheren Umgebung.
2. Unsere Haltung
Kinder lassen sich in Konflikten unglaublich schnell und einfach kontrollieren oder manipulieren. Wir haben große Macht, und wenn wir sie für Befriedungen oder miese Tricks verwenden, dann zahlen unsere Kinder den Preis dafür! Nicht nur heute, sondern womöglich ihr ganzes Leben lang. Stattdessen können wir die Haltung annehmen, die Integrität aller Beteiligten (inkl. uns selbst) ganz nach oben zu setzen. Wenn ein Kind z. B. zu 95 % ein Ja zu einer Lösung hat und zu 5 % ein Nein, dann geht es darum, diese 5 % anzuschauen und nicht zu sagen: Hat doch Ja gesagt, also sind wir jetzt durch. Ich WILL das Sandkorn sehen, für das es noch nicht stimmig ist. Wenn ich einen Zweifel in der Stimme des Kindes heraushöre (oder hineindeute), das gerade genau das sagt, was den Konflikt beenden würde, dann will ich diesen Zweifel hören. Dann ist da vielleicht was noch nicht ganz rund, und vielleicht dauert es dann noch eine halbe Stunde länger. Aber ich will, dass alle Anteile meiner Kinder mit im Boot sind. Und auch meine eigenen.
3. Es geht nicht um Schuld
Es geht darum, zu verstehen und mitzufühlen, nicht darum, sich bedeckt zu halten, damit bloß nichts über mich ans Licht kommt, für das ich bestraft werden könnte. Ihr spielt nicht Poker, sondern ihr puzzelt. Und jeder von euch hat ein paar der nötigen Puzzleteile in seinem Rucksack.
„Ah ja, stimmt, da hab ich pampig reagiert. Ich war sauer auf dich“ – „Warum warst du sauer auf mich?“ – „Weil …“
4. Einzelgespräche bei starken Emotionen
Wenn die Emotionen zu groß sind, kann man mit jedem erstmal alleine sprechen, bevor man sich zusammen setzt.
5. Emotionale Sicherheit schaffen
Wenn der Streit heftig war, kannst du z. B. fragen, ob der Abstand passt, wie sie bei der Konfliktlösung sitzen – vielleicht ist es einem zu nah. Vielleicht zeigt einer Konzentrationsschwierigkeiten oder Erinnerungsprobleme. In dem Fall Druck rausnehmen, Sicherheit geben, Verständnis zeigen, erklären, wie das passiert, vielleicht erst nochmal eine Weile in den Arm nehmen etc.
6. Direkte Kommunikation zwischen den Kindern fördern
Ermutigt die Kinder, miteinander zu sprechen, anstatt mit euch über den anderen. Wenn das zu intensiv ist, können sie es auch erst euch einmal sagen, und dann bittet ihr sie, es jetzt dem anderen Kind noch einmal direkt zu sagen.
7. Aktives Zuhören und Wiederholen
Bittet die Kinder, zu wiederholen, was sie vom anderen gehört haben. Dann kann das erste Kind ggf. nochmal korrigieren oder sagen, was gefehlt hat. Man kann das als Mediator auch nochmal abfragen, z. B. „Hast du verstanden, dass es genau das war, was sie verletzt hat?“ oder auch „Macht das Sinn für dich?“
8. Unterschiedliche Arten von Konflikten erkennen
Bei manchen Streits geht es darum, die Achtsamkeit zu entwickeln, den anderen nicht mehr in diesem oder jenem Punkt zu verletzen. Bei anderen Streits geht es um ganz banale praktische Lösungen.
9. Regeländerungen als Experiment
Wenn jemand eine neue Regel oder Regeländerung vorschlägt und der andere Bedenken hat und man diese Bedenken nicht einfach in die Regel einarbeiten kann, kann man auch vorschlagen, die neue Regel einmal als Experiment für eine Woche oder einen Monat auszuprobieren und dann nochmal zu sprechen.
10. Eigene Wahrnehmung einbringen
Bring deine eigene Wahrnehmung und Erfahrung mit ins Spiel. Tu nicht so, als hättest du gerade keine Idee, worum es im Konflikt eigentlich geht. Vertrau deiner Intuition. Aber lasst die Möglichkeit offen, dass du dich irrst.
11. Freundschaft mit der Angst schließen
Konflikte sind Orte der Transformation. Wir betreten unbekanntes Land zusammen. Wir wissen nicht, wie es geht, und es steht viel auf dem Spiel. Das macht Angst und das ist ganz normal. Wie ein Künstler, der vor dem Auftritt Lampenfieber hat, könnten wir MIT der Angst auf die „Bühne“ gehen und unser Bestes geben.
12. Regelmäßige Konfliktklärungsrunden einführen
Richtet einen regelmäßigen Termin ein, anfangs vielleicht einmal die Woche, in dem ihr die Konflikte einsammelt, die die Kids im Alltag nicht angesprochen haben (auch die Konflikte mit euch und eure mit ihnen).
13. Den Raum bewusst wahrnehmen
Krieg mit, was in dem Raum passiert, den du hältst (also euer zuhause, euer Familienleben, euer Miteinander). Womöglich ist es zu viel, gleich von Anfang an alles aufzugreifen, was du wahrnimmst. Wichtig ist erstmal, es mitzukriegen. Ist die Stimmung irgendwie gereizt? War da ein „U-Boot“ mit in der Kommunikation? Hat also jemand zu den eigentlichen Worten noch eine andere Information mitgeschickt? Im Tonfall? In der Wahl der Worte? Nonverbal?
14. Eine klare Familienkultur etablieren
Deklariere für die Kultur deiner Familie (etc.) unter anderem, dass niemand versucht, andere zu dominieren/kontrollieren oder zu manipulieren. Und dass Konflikte gelöst werden. Eine bewusst deklarierte Kultur hilft dir, wahrzunehmen und zu benennen, wenn sich gerade irgendwas ungut anfühlt und du übernimmst bewusst die Verantwortung für die Umgebung deiner Kinder und gestaltest sie. Das kann beängstigend sein, denn wir haben womöglich keine guten Vorbilder und jede Entscheidung hat Konsequenzen. Aber auch wenn wir die Kultur nicht bewusst gestalten, hat unser Handeln Konsequenzen. Es ist ein Großteil der Kindheit unserer Kinder.
Eine bewusst gestaltete Kultur ist etwas anderes als deine eigenen persönlichen Grenzen. Es geht darum, dass sich die Kinder sicher, gesehen und ernst genommen fühlen, nicht darum, wie es dir in einer bestimmten Situation gerade geht. Und sie ist die Basis für eine gute Zusammenarbeit als Eltern, als Team, vielleicht als Gemeinschaft. Und sie ist auch eine klare Intention für dein eigens Verhalten. Keine Dominanz, keine Manipulation, keine Ignoranz wäre dann auch der Anspruch an dich und bildet ein fruchtbares Setting für das eigene Wachstum.
15. Klare Regeln schaffen
Sind die Regeln klar? Zum Beispiel „Jeder spielt ein Spiel so lange, wie er will“, „Niemand stört den anderen bei seinem Spiel“, „Jeder kann selbst entscheiden, ob er gerade alleine oder mit anderen spielen möchte“ etc. Auch das ist Teil eurer Kultur. Und jede Regel kann jederzeit gemeinsam verändert werden.
16. Schrittweise zurückziehen
Zieh dich über die Monate mehr und mehr aus deiner Rolle als Mediator zurück, so dass sie lernen, die Konflikte auch alleine zu lösen und dich nur noch zu rufen, wenn sie irgendwo nicht weiterkommen. Krieg mit, was passiert, und sprich es an, wenn sie es nicht tun, aber schau erst einmal, wie weit sie die Konfliktlösungskultur, die du mit ihnen gemeinsam erarbeitet hast bereits aufgegriffen haben. Das ist es doch, wo wir hin wollen und es gehört in meinen Augen mit zu den wichtigsten Fähigkeiten, die wir unseren Kindern mitgeben können.